Die Situation in Belarus ist momentan ein hochaktuelles und sehr ernstes Thema. Ich war letzte Woche auf dem Kongress der Interparlamentarischen Union in Madrid und habe dort Dzianis Kuchynski getroffen und gesprochen. Er ist Senior Foreign Affairs Officer im Büro von Sviatlana Tsikhanouskaya, die als parteilose Bürgerrechtlerin Kandidatin bei der Präsidentschaftswahl war. Dieser schilderte mir eine dramatische Lage. Er meinte, die Zivilgesellschaft sei praktisch zerschlagen, es gäbe willkürliche Verhaftungen von Menschenrechtsaktivist*innen, massive Behinderung von Anwält*innen und Journalist*innen. Belarus benötige dringend viel mehr Unterstützung von europäischen Parlamenten. Und er bittet um Unterstützung von uns allen: Bitte teilt in den sozialen Medien #StandWithBelarus – eine Aktion von Amnesty International.


Ich bewundere den Mut der Opposition in Belarus. Dies ist für mich der Anlass euch heute über die Grenzsituation dort zu berichten:
Seit 2020 gibt es seitens der EU Sanktionen gegenüber Belarus. Diese wurden verhängt, da die Präsidentschaftswahlen 2020 weder frei noch fair waren und es darüber hinaus zu Gewalt der belarussischen Behörden gegen friedliche Demonstrierende sowie zu willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen kam. Alexander Lukaschenko wird somit von der EU auch nicht als Präsident anerkannt.1

Ihm wird vorgeworfen, als Reaktion auf die Sanktionen gezielt Migrant*innen ins Land zu holen, um sie dann zur Weiterreise in die EU an die Grenze zu Polen, Litauen und Lettland zu bringen. „Schon im Frühjahr erleichterte Belarus die Visavergabe an Iraker*innen und erhöhte die Zahl der Flüge aus dem Nahen Osten nach Minsk. (…)Die Flüchtlinge aus dem Irak bekamen von den belarussischen Behörden Touristenvisa. Interessent*innen bezahlten laut Medienberichten bis zu 15.000 Euro. Die Nachricht von den angeblich sicheren und bequemen, wenn auch teuren Reisen verbreitete sich über die sozialen Medien.“2

Nachdem Polen begonnen hat, die Grenze mit dem Bundesgrenzschutz verstärkt zu bewachen - und mit – vermutlich - illegalen Push-Backs die Migrant*innen daran hindert die polnische Grenze zu überqueren - wurde die Thematik Teil der öffentlichen Diskussion. Pushback bezeichnet das - internationalem Recht widersprechende - Zurücksenden von Migranten oder Flüchtlingen über eine Landesgrenze, ohne dass diese Gelegenheit hatten, einen Asylantrag zu stellen. Der Flüchtlings-
konvention der Vereinten Nationen von 1951, dem Protokoll 4 zur UN-Menschenrechtskonvention sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention zufolge haben Flüchtlinge das Recht, einen Asylantrag zu stellen, auch dann, wenn sie zuvor eine Grenze illegal überquert haben. Jeder Antrag muss individuell geprüft werden
Dabei war man lange insbesondere von Bildern von belarussischer und polnischer Seite abhängig. Freier Presse war es ebenso wie Hilfsorganisationen nicht erlaubt, das Grenzgebiet zu betreten, so dass keine unabhängigen Aufnahmen oder Einschätzungen gemacht werden konnten. Dies ist zumindest für die Presse leicht gelockert – Pressevertreter*innen können das Gebiet nun betreten, allerdings immer noch lediglich in Begleitung mit dem polnischen Grenzschutz. Der zentrale Ort der Auseinandersetzung war Kúznica. Nach Schätzungen des polnischen Grenzschutzes waren dort zwischenzeitlich zwischen 2.000 und 40003 Migrant*innen zusammengekommen.4

Unsere Bundestagsabgeordneten Merle Spellerberg und Julian Pahlke waren letzten Monat als parlamentarische Beobachter*innen an die Grenze gefahren. Sie konnten nicht direkt vor Ort in Kúznica sein, sprachen aber mit Geflüchteten, lokalen Bürgermeister*innen und Hilfsorganisationen vor Ort. Demnach haben Ärzt*innen von schwangeren Flüchtlingen berichtet, die in der Kälte Fehlgeburten erlitten. Andere Geflüchtete ernährten sich seit Tagen nur von Blättern und dreckigem Wasser. Mindestens 10 Menschen sind bereits gestorben5.

Sie harrten in provisorischen Lagern mit Feuerstellen und Zelten unter freiem Himmel auf belarussischem Boden aus - teilweise bei Minusgraden - und sowohl von der belarussischen als auch der polnischen Seite zurückgedrängt. Dieses Lager ist inzwischen geräumt. Knapp 2.000 Migrant*innen wurden auf belarussischer Seite in eine riesige Lagerhalle eines Logistikzentrums gebracht.6 Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes würden belarussische Einsatzkräfte nun regelmäßig mit Lastwagen Migrant*innen an die Grenze bringen.7 Es gibt inzwischen allerdings die Möglichkeit der Rückreise in das Herkunftsland.8 Hunderte Menschen nutzen dies, häufig auch einfach, weil sie kein Geld und/oder keine Hoffnung mehr haben. Mindestens 1500 Menschen wurden demnach wieder in das Herkunftsland zurückgebracht.9 10

Offenbar wollen jedoch die Meisten weiter versuchen in die EU zu kommen.11 Viele Migrant*innen berichten davon, dass sie von belarussische Polizist*innen gezwungen wurden, die Grenze weiterhin zu überqueren, die polnischen Grenzbeamten zu attackieren und nicht mehr zurückgelassen wurden.11 12 13
Die EU reagiert auf verschiedenen Wegen. Zunächst hat sie dafür gesorgt, dass viele Fluggesellschaften Minsk nicht mehr anfliegen. Auf der anderen Seite reagiert die EU mit einer weiteren Verschärfung der Sanktionen gegenüber Belarus. Dazu will sie die Rückführung in die Herkunftsländer unterstützen. Irak habe man dazu auch gesonderte „Wiedereingliederungshilfe“ angeboten. Dazu kündigte die Kommission an, Lettland, Litauen und Polen in den nächsten zwei Jahren mit zusätzlichen 200 Mio. EUR bei der Ausstattung eines „robusten Grenzmanagementsystems“ (z.B. Infrarot-Kameras, Bewegungsmelder, Drohnen etc.) zu unterstützen. Der Vizepräsident der Kommission, Schinas, kündigte darüber hinaus an, den Schengener Grenzkodex so zu überarbeiten, dass einseitige Grenzschließungen möglich sind und dies mit der „Instrumentalisierung von Menschen“ zu begründen.14

Somit sehen wir, dass die EU klar mit Abschottungspolitik reagiert. Im Zuge dieses Konflikts haben Dutzende Menschen ihre Lebensgrundlage verloren, indem sie zehntausende Euro an Schleuser bezahlt haben mit der Hoffnung nach Europa zu kommen.

BWR

1 (https://www.consilium.europa.eu/de/policies/sanctions/restrictive-measures-against-belarus/#)

2 (https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlingsansturm-an-polnischer-grenze-europa-wurde-ueberrascht-dabei-war-die-krise-abzusehen/27808468.html

3 Grenze zu Belarus: Migrationskrise führt zu Gewalteskalation – am Abend „relative“ Ruhe - WELT)
4 (https://www.zeit.de/politik/2021-11/grenzstreit-polen-belarus-kuznica-brusgi-grenzuebergang-migranten-bustransport)
5 (Zehn Migranten an Grenze tot: Irak will Landsleute aus Belarus zurückholen - n-tv.de)
6 Grenzstreit mit Belarus: Zeltlager an polnischer Grenze vollständig geräumt | ZEIT ONLINE
7 EU-Außengrenze: Laut polnischem Grenzschutz noch 10.000 Migranten in Belarus | ZEIT ONLINE
8 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-11/belarus-eu-aussengrenze-polen
9 https://www.nau.ch/news/ausland/irak-bringt-erneut-hunderte-migranten-aus-belarus-zuruck-66058397
10 https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlingsansturm-an-polnischer-grenze-europa-wurde-ueberrascht-dabei-war-die-krise-abzusehen/27808468.html)
11 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/belarus-grenze-113.html
12 Flucht nach Europa: Alles verkauft – für den Weg nach Europa | ze.tt (zeit.de)
13 Flucht nach Europa: "Guten Morgen, Leute. Ich will am Montag los" | ZEIT ONLINE

14 https://intranet.gruene-intern.frak/system/files/documents/gruner_bericht_aus_brussel_vom_29.11.2021.pdf